Es gehört zum Wesen der Weltreligionen, dass sich in ihrem Umfeld Ereignisse abspielen, die mit dem Begriff »Wunder« nur ungenügend umschrieben sind. Seit der Reformation wird innerhalb der katholischen Kirche von Hunderten von Marienerscheinungen berichtet, in denen die »Heilige Jungfrau« meist zu Kindern und einfachen Menschen gesprochen haben soll. Einige mit Marienerscheinungen verbundene Mirakel oder Wunder sind vom Vatikan anerkannt und viele davon haben einen besonderen Einfluss auf das kirchliche Leben in den betroffenen Orten bekommen. So strömen jedes Jahr Hunderttausende von Gläubigen in die Wallfahrtskirchen von Tschenstochau (Polen), Lourdes (Frankreich), Fatima (Portugal), nach Medjugorje (Bosnien-Herzegowina) oder auch ins fränkische Heroldsbach (Deutschland).
Die Prophezeiung der drei Geheimnisse
Am 13. Mai 1917 hüteten die zehn Jahre alte Lucia dos Santos, ihre Cousine Jacinta Marti und deren Bruder Francisco außerhalb des Dorfes Fatima in Portugal Schafe, als sie eine »weiß gekleidete Dame« unter einer Eiche stehen sahen. Diese gab sich ihnen als Jungfrau Maria zu erkennen und überbrachte ihnen in der Folge mehrere Botschaften. Sechsmal, jeweils am 13. des Monats, erschien die Jungfrau und übermittelte ihnen insgesamt drei Prophezeiungen, die als die »Geheimnisse von Fatima« in die Geschichte eingingen. Bei der letzten dieser Erscheinungen waren 70.000 Menschen anwesend und konnten, wie selbst kritische Augenzeugen später berichteten, einem eigenartigen Phänomen beiwohnen: Die Sonne schien sich um ihre eigene Achse zu drehen und dabei in den Farben des Regenbogens zu strahlen.
In der ersten Botschaft soll der frühe Tod von zwei der Seherkinder sowie der Zweite Weltkrieg vorhergesagt worden sein. Das »zweite Geheimnis« wurde als Aufstieg und Fall des Kommunismus in Russland interpretiert. Über das »dritte Geheimnis« war in den vergangenen Jahrzehnten viel spekuliert worden, sein Inhalt wurde erst später an die Öffentlichkeit gebracht.
Die Erfüllung der Geheimnisse
Die Geschwister Francisco und Jacinta Marti starben tatsächlich im Alter von nur neun und zehn Jahren 1919/20, kurz nachdem ihnen die Jungfrau erschienen war, an Lungenentzündung. Lucia dos Santos lebte als Nonne in einem Konvent nahe der portugiesischen Stadt Coimbra – sie konnte im Jahr 2000 ihren 93. Geburtstag feiern und verstarb am 13. Februar 2005. Nach der Erfüllung der zweiten Prophezeiung, mit der unbeschreibliches Leid verbunden war, rätselte man jahrzehntelang über den Inhalt der dritten Botschaft, die die Nonne 1944 niedergeschrieben hatte. Ihr versiegelter Brief war nur den jeweils amtierenden Päpsten zugänglich, bis Johannes Paul II. bei der Seligsprechung der beiden früh gestorbenen Seherkinder am 13. Mai 2000 dieses letzte der drei Geheimnisse preisgab: Es beschreibe den Mordanschlag auf einen »in weiß gekleideten Bischof«, der »von Schüssen getroffen – wie tot zu Boden« falle.
Johannes Paul II., der auch Bischof von Rom war, sah in der Prophezeiung einen Hinweis auf den Anschlag vom 13. Mai 1981 – dem Jahrestag der Fatima-Erscheinung – bei dem er von den Schüssen des türkischen Attentäters Mehmet Ali Agca schwer verletzt worden war und mit dem Tode gerungen hatte. Er war überzeugt, dass »eine mütterlich Hand den Lauf der Kugel geleitet hat«, wie er seinem Kardinalskollegium kurz nach dem Attentat, noch auf dem Krankenlager, mitteilte. Damit hatte der Vatikan eines der größten Mysterien der jüngeren Kirchengeschichte enthüllt und die Spekulationen, die um dieses letzte der drei Geheimnisse kreisten, vorläufig beendet. Weitere, noch nicht entschlüsselte Mirakel werden aber im Brief von Lucia dos Santos vermutet.
Bildquellen
- Childrens of Fatima: Joshua Benoliel zugeschrieben, Public domain, via Wikimedia Commons | Public Domain Mark 1.0
- Fatima: Bild von Bernardo Ferreria auf Pixabay | Pixabay-Lizenz