Es war eine kalte Novembernacht, als Lena in den letzten Zug nach Hause stieg. Der Bahnsteig war menschenleer, und der Nebel, der über den Schienen schwebte, verschluckte jedes Geräusch. Sie hatte Überstunden gemacht und war müde, doch der Gedanke an ihr warmes Bett half ihr, die Fahrt zu ertragen.
Als Lena den Zug betrat, fiel ihr sofort auf, dass er ungewöhnlich leer war. Nur eine alte Frau saß am Ende des Wagens und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ihre reglosen Hände ruhten auf einem abgewetzten Lederkoffer. Lena wählte einen Platz in der Nähe der Tür und zog ihren Mantel enger um sich, als ein eisiger Luftzug durch den Waggon zog.
Die ersten Minuten verliefen ereignislos. Der Zug ratterte monoton über die Schienen, das Licht flackerte gelegentlich, und die Geräusche der Schienenstöße wirkten beinahe beruhigend. Lena lehnte ihren Kopf ans Fenster und ließ die Augenlider schwerer werden.
Doch dann hörte sie es.
Ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern. Es kam aus der Richtung der alten Frau. Lena öffnete die Augen und blickte vorsichtig über ihre Schulter. Die Frau saß immer noch reglos da, aber ihre Lippen bewegten sich – als ob sie etwas sagte, das nur für sie selbst bestimmt war.
Lena schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Nur ein müder Geist, der sich Dinge einbildet“, dachte sie. Doch das Flüstern hörte nicht auf. Es wurde lauter, eindringlicher, und jetzt klang es, als käme es von überall im Waggon.
Sie zwang sich, wieder hinzusehen – doch die Frau war verschwunden. Der Koffer lag jetzt auf ihrem Sitzplatz, und der Waggon war totenstill.
Ein plötzliches Krachen ließ Lena aufschrecken. Der Zug machte einen Ruck, das Licht flackerte stärker, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass etwas hinter ihr stand. Sie wirbelte herum, doch der Waggon war leer.
Dann öffnete sich der Koffer.
Langsam, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, schwang der Deckel auf. Lena starrte auf die schwarze Leere im Inneren, die tiefer wirkte, als sie sein sollte – wie ein Loch, das direkt in die Dunkelheit führte. Ein eisiger Wind strömte heraus, und mit ihm ein entsetzlicher Gestank, der nach Erde und Verwesung roch.
Aus der Dunkelheit erklang eine Stimme. Tief, kehlig, und voller Schmerz. „Warum bist du hier?“ Sie wiederholte die Worte, wie ein Mantra, das immer näher und lauter wurde. Lena wollte schreien, doch ihre Stimme blieb in ihrer Kehle stecken.
Plötzlich begann der Zug, schneller zu fahren. Die Landschaft draußen war verschwunden, ersetzt durch endlose Dunkelheit, die vom flackernden Licht im Waggon durchbrochen wurde. Der Zug ratterte so heftig, dass Lena sich am Sitz festhalten musste, um nicht zu stürzen.
Und dann war da die alte Frau wieder. Sie stand am Ende des Wagens, doch ihr Gesicht war nicht mehr das einer alten Frau. Ihre Augen waren leer und schwarz, und ihr Mund war zu einem verzerrten, unmenschlichen Lächeln verzogen.
„Du hättest nicht einsteigen sollen“, sagte sie, ihre Stimme ein Hauch, der direkt in Lenas Gedanken schnitt. „Dieser Zug fährt nur in eine Richtung.“
Der Waggon wurde plötzlich von einem blendenden Licht erfüllt, und Lena fühlte, wie etwas sie nach hinten zog, weg vom Sitz, weg von der Realität. Sie kämpfte, schrie, doch es war, als ob die Dunkelheit sie verschlucken wollte.
Am nächsten Morgen fand der Bahnhofsmitarbeiter den letzten Zug leer auf einem Abstellgleis. Der Waggon war intakt, doch in der Ecke lag ein alter, abgewetzter Lederkoffer. Niemand wusste, wem er gehörte, und niemand wagte es, ihn zu öffnen.
Von Lena fehlte jede Spur.
Ines aus Wien