Die Legende von Atlantis ist eine Geschichte von Macht, Wissen und einem verhängnisvollen Stolz. Doch was wirklich geschah, in jener Nacht, als die große Stadt unterging, bleibt ein Geheimnis. Bis heute erzählen die Ältesten von einer jungen Frau namens Kaelis, die die letzte Zeugin des Untergangs war. Dies ist ihre Geschichte.
Das Herz von Atlantis
Atlantis war eine Stadt der Wunder. Ihre Türme aus strahlendem Orichalk glänzten im Licht der Sonne, und die Kanäle, die die Stadt durchzogen, waren gefüllt mit kristallklarem Wasser, das von einer unerschöpflichen Quelle tief unter der Erde gespeist wurde.
In der Mitte der Stadt stand der Tempel des Kristallherzens, ein riesiger, schimmernder Stein, der als Ursprung aller Macht von Atlantis galt. Die Priester sagten, dass der Kristall ein Geschenk der Götter sei, und dass seine Energie die Stadt mit Wohlstand und Wissen erfüllte. Doch mit der Zeit begann die Menschheit, mehr von ihm zu verlangen, als er geben konnte.
Kaelis, die Tochter eines Gelehrten, arbeitete im Tempel als Assistentin. Sie hatte den Kristall aus der Nähe gesehen, gespürt, wie seine Energie ihre Haut prickeln ließ. Doch sie hatte auch bemerkt, wie der Stein Risse bekam, je mehr die Priester versuchten, seine Macht zu nutzen.
Das Ritual
In der letzten Nacht von Atlantis fand ein großes Ritual statt. Der König hatte die mächtigsten Priester versammelt, um die Energie des Kristalls zu vervielfachen. „Wir werden die Götter herausfordern“, verkündete er stolz. „Mit der unendlichen Energie des Kristalls wird Atlantis unbesiegbar!“
Kaelis war Zeugin, wie die Priester um den Kristall versammelt waren, ihre Stimmen in einem monotonen Singsang erhoben. Die Luft im Tempel wurde heiß, flimmernd, und der Kristall begann zu pulsieren, sein Licht wurde greller, unnatürlich.
Doch etwas war falsch. Kaelis spürte es, bevor es geschah. Ein tiefes Dröhnen begann, zuerst kaum hörbar, dann immer lauter. Der Boden unter ihren Füßen bebte, und die Risse im Kristall weiteten sich.
Die Warnung
Plötzlich erschien eine Stimme in ihrem Kopf, klar und durchdringend. Es war keine Stimme, die sie je zuvor gehört hatte, doch sie klang uralt.
„Haltet inne“, sagte die Stimme. „Ihr versteht nicht, was ihr entfesselt habt.“
Kaelis stürzte nach vorne, versuchte, die Priester zu warnen, doch sie wurde zurückgestoßen. Der König sah sie an, seine Augen erfüllt von Wut und Gier. „Die Macht ist unser Schicksal!“, rief er.
Der Kristall gab ein scharfes Krachen von sich, und ein greller Lichtstrahl schoss aus seinem Inneren. Ein Riss zog sich durch den Boden des Tempels, und das Dröhnen wurde zu einem ohrenbetäubenden Kreischen.
Der Untergang
In Panik floh Kaelis aus dem Tempel. Doch draußen war die Stadt bereits im Chaos. Gebäude stürzten ein, das Wasser in den Kanälen stieg und begann, die Straßen zu überfluten. Überall hörte man Schreie, Menschen rannten in alle Richtungen, doch es gab keinen Ort, an dem sie sicher waren.
Kaelis spürte, dass dies nicht nur ein Erdbeben war. Es war, als würde der Kristall selbst die Stadt zurückfordern, die ihn ausgebeutet hatte. Der Himmel verdunkelte sich, Blitze zuckten über die Stadt, und der Boden riss auf.
In ihrer Verzweiflung wandte sich Kaelis dem Meer zu. Das Wasser begann, sich von der Küste zurückzuziehen, nur um kurz darauf in einer gewaltigen Flutwelle zurückzukehren.
Das Opfer
Kaelis wusste, dass sie etwas tun musste. Die Stimme in ihrem Kopf sprach erneut: „Nur ein Opfer kann das Gleichgewicht wiederherstellen.“
Mit dem Mut der Verzweiflung kehrte sie zum Tempel zurück. Der Kristall war nun ein tobender Sturm aus Licht und Energie, der die Mauern des Gebäudes zerfetzte. Kaelis näherte sich ihm, spürte die unvorstellbare Hitze, die von ihm ausging, und legte ihre Hände auf die glühende Oberfläche.
„Nimm mich“, flüsterte sie. „Aber verschone die Unschuldigen.“
Ein letzter Lichtstrahl durchzuckte die Nacht, heller als die Sonne, und dann herrschte Stille.
Das Verschwinden
Am Morgen war Atlantis verschwunden. Wo einst Türme und Kanäle standen, war nur noch ein endloser Ozean. Kein Überlebender kehrte je zurück, und das Wissen um die große Stadt versank mit ihr.
Man sagt, dass Kaelis’ Geist noch immer über den Ort wacht, an dem Atlantis unterging. Taucher, die sich in die Tiefe wagen, berichten von einem schwachen, schimmernden Licht, das aus den dunklen Wassern emporsteigt – das letzte Flüstern des Kristallherzens und der Frau, die ihr Leben opferte, um das Ungeheuer in seiner Mitte zu bändigen.
Justus aus Traun