Im Herzen eines dichten Waldes, den die Bewohner der umliegenden Dörfer nur „Nebelwald“ nennen, rankt sich eine uralte Sage um eine mysteriöse Erscheinung: die Weiße Frau, ein Geist, der angeblich jeden heimsucht, der den Wald bei Nacht betritt.
Der Ursprung der Legende
Vor vielen Jahrhunderten, so erzählt man sich, lebte in einem der Dörfer ein Mädchen namens Elisabeth, bekannt für ihre außergewöhnliche Schönheit und ihre strahlend weißen Haare. Sie war die Tochter eines armen Holzfällers, der mit ihr allein in einer Hütte am Waldrand lebte. Die Dorfbewohner hielten Elisabeth für etwas Besonderes – manche behaupteten, sie sei von den Feen des Waldes gesegnet worden, andere jedoch flüsterten, sie trage einen Fluch.
Eines Tages verliebte sich der junge Fürst der Region, Alarich, in Elisabeth. Trotz ihrer niederen Herkunft versprach er, sie zu heiraten, doch seine Familie war dagegen. Um ihre Liebe zu beweisen, vereinbarten Elisabeth und Alarich ein geheimes Treffen in einer Lichtung des Waldes. Dort wollte er sie holen und mit ihr fortgehen.
Doch Elisabeth wartete die ganze Nacht vergebens. Alarich kam nicht – stattdessen erschien ein Bote seiner Familie mit einer schrecklichen Nachricht: Der Fürst war tot, ertrunken in einem nahen Fluss. Vor Kummer und Schmerz irrte Elisabeth tagelang durch den Wald, bis sie schließlich spurlos verschwand.
Die Erscheinung der Weißen Frau
Seit jener Zeit berichtet man von einer weißen Gestalt, die in nebligen Nächten durch den Wald wandert. Die „Weiße Frau“, wie sie genannt wird, erscheint jenen, die den Wald bei Dunkelheit betreten. Ihre Augen sollen von tiefem Leid erfüllt sein, und ihre Stimme klingt wie ein trauriges Lied, das die Stille durchbricht.
Die Dorfbewohner glauben, dass Elisabeths Geist immer noch nach Alarich sucht, unfähig, den Schmerz ihres Verlustes zu überwinden. Es heißt, wer der Weißen Frau begegnet, wird vom gleichen Schicksal heimgesucht: ein Verlust, der die Seele zerreißt.
Die drei Regeln
Um der Weißen Frau zu entgehen, gibt es drei Regeln, die die Dorfbewohner seit Generationen befolgen:
- Betritt niemals den Wald nach Einbruch der Dunkelheit.
- Wenn du die Weiße Frau siehst, sieh ihr nicht in die Augen.
- Höre niemals ihrem Lied zu – wende dich ab und fliehe.
Es gibt viele Geschichten über jene, die diese Regeln missachteten. Ein junger Jäger, der dem Gesang der Weißen Frau lauschte, soll in Wahnsinn verfallen sein und Tage später erfroren aufgefunden worden sein. Ein Händler, der behauptete, ihr in die Augen gesehen zu haben, verschwand spurlos.
Die alte Eiche
In der Mitte des Nebelwaldes steht eine mächtige, uralte Eiche, die als „Elisabeths Baum“ bekannt ist. An ihrem Fuß liegt ein verwitterter Grabstein mit den Initialen „E. L.“, und man sagt, dass der Geist der Weißen Frau hier besonders stark ist. In manchen Nächten kann man angeblich ihre Silhouette unter den Zweigen sehen, wie sie auf jemanden zu warten scheint.
Die Dorfbewohner meiden den Baum aus Angst, doch es gibt eine letzte Regel für jene, die den Mut haben, Elisabeths Leid zu beenden: Wenn jemand ihre Gebeine findet und sie zusammen mit einer weißen Rose an der Eiche bestattet, soll ihr Geist endlich Ruhe finden.
Das Ende der Sage?
Obwohl viele behaupten, dass niemand Elisabeths Überreste finden wird, gibt es eine andere Legende. Sie besagt, dass ein Nachkomme von Alarich – erkennbar an einem besonderen Amulett, das einst der Familie gehörte – derjenige sein wird, der die Weiße Frau erlösen kann. Doch bis heute hat niemand den Mut gefunden, die Wahrheit hinter dem Nebelwald zu enthüllen.
Und so bleibt die Weiße Frau ein düsteres Mysterium, das Wanderer abschreckt und die Dörfer in Ehrfurcht erstarren lässt. Noch immer hört man in nebligen Nächten ihr trauriges Lied, das durch die Bäume hallt – ein Klang, der unzählige Geschichten nährt und den Nebelwald für immer in Geheimnisse hüllt.
Jeannine aus Bregenz