5. Februar 2025

Das Ungeheuer im See

Der See von Morgenwald lag still und düster zwischen den umliegenden Hügeln. Niemand wusste genau, wie tief er war, und in den klaren Nächten behaupteten die Dorfbewohner, dass sie seltsame Lichter unter der Wasseroberfläche gesehen hätten. Alte Geschichten sprachen von einem Wesen, das in den Tiefen des Sees lebte – einem Ungeheuer, das seit Jahrhunderten Menschen in die Tiefe zog.

Die meisten hielten die Erzählungen für bloße Märchen, doch niemand wagte es, nach Einbruch der Dunkelheit am Ufer zu verweilen. Niemand, außer Jonas.

Der neugierige Fischer

Jonas war ein junger Mann, der in Morgenwald lebte und den Geschichten des Dorfes wenig Glauben schenkte. Seit seiner Kindheit hatte er den See geliebt und war oft allein mit seinem kleinen Boot hinausgefahren, um zu fischen. Doch in letzter Zeit hatten sich die Fische verändert. Sie waren seltener geworden, und einige von ihnen hatten merkwürdige Verletzungen – Bissspuren, die Jonas nicht zuordnen konnte.

Eines Abends beschloss er, die Wahrheit herauszufinden. Mit seiner Angel und einer starken Lampe ruderte er hinaus, das Wasser unter seinem Boot schwarz wie Tinte. Die Nacht war still, kein Windhauch kräuselte die Wasseroberfläche.

Das erste Zeichen

Jonas hatte gerade seine Angel ausgeworfen, als er ein leises Blubbern hörte. Es klang, als würde Luft aus der Tiefe aufsteigen. Er leuchtete mit seiner Lampe über das Wasser, doch er sah nichts. Das Blubbern wurde lauter, regelmäßiger, und plötzlich zog etwas mit einer erschreckenden Kraft an seiner Angelschnur.

„Was zum…?“ Jonas hielt sich fest, während die Schnur sich spannte, als würde ein riesiger Fisch daran ziehen. Doch dann ließ die Spannung plötzlich nach, und die Schnur war schlaff. Verwirrt zog er sie ein, doch der Haken war verbogen – etwas sehr Starkes hatte daran gezogen.

Plötzlich bewegte sich etwas unter dem Boot. Es war nur ein Schatten, aber er war groß, viel größer als alles, was Jonas je gesehen hatte.

Das Ungeheuer erscheint

Ehe Jonas reagieren konnte, schoss etwas aus dem Wasser empor – ein gewaltiger, schlangenartiger Kopf mit glitschiger, dunkler Haut und Augen, die gelblich leuchteten. Das Wesen stieß ein tiefes, grollendes Geräusch aus, das wie ein Donnern klang. Jonas fiel vor Schreck rückwärts ins Boot, seine Lampe fiel ins Wasser und erlosch.

Das Ungeheuer umkreiste das Boot, seine Bewegungen erzeugten Wellen, die Jonas hin und her warfen. Er griff nach einem Ruder und schlug damit ins Wasser, in der Hoffnung, das Wesen zu vertreiben. Doch es tauchte wieder auf, näher als zuvor, und starrte ihn mit seinen unergründlichen Augen an.

Die Flucht

Jonas spürte, wie sein Herz raste. Mit einer Hand griff er nach dem zweiten Ruder und begann zu paddeln, so schnell er konnte. Das Ungeheuer verschwand erneut unter der Wasseroberfläche, doch er konnte spüren, dass es ihm folgte. Das Boot schaukelte bedrohlich, als das Wesen unter ihm hindurchschoss.

Gerade als Jonas das Ufer erreichen wollte, tauchte das Wesen vor ihm auf, sein Maul öffnete sich und zeigte Reihen scharfer Zähne. In einem letzten verzweifelten Versuch warf Jonas die Lampe, die noch an einem Seil befestigt war, direkt auf das Ungeheuer. Es brüllte, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das die Stille der Nacht zerriss, und verschwand in der Tiefe.

Jonas erreichte das Ufer, zitternd und außer Atem. Als er sich umsah, war der See wieder still, als wäre nichts geschehen.

Die Wahrheit bleibt verborgen

Am nächsten Morgen erzählte Jonas den Dorfbewohnern, was er gesehen hatte, doch die meisten lachten ihn aus. Nur der alte Herr Brandt, ein ehemaliger Fischer, sah ihn mit ernster Miene an.

„Du hast das Ungeheuer gesehen“, sagte er leise. „Ich habe es auch gesehen, vor vielen Jahren. Es gehört zum See. Es lässt dich leben, wenn du es in Ruhe lässt. Aber wage es nie wieder, nach Einbruch der Dunkelheit hinauszufahren.“

Jonas beschloss, die Warnung ernst zu nehmen. Er ging nie wieder nach Sonnenuntergang an den See. Doch manchmal, wenn er nachts wachlag, hörte er das leise Blubbern, das aus der Tiefe kam – und wusste, dass das Ungeheuer noch immer da war.

Andreas aus Passau