5. Februar 2025

Das leere Zimmer

In einem alten Mietshaus, das am Rande der Stadt stand, gab es ein Zimmer, das niemand mieten wollte. Es war das Zimmer 303, und die Geschichten, die sich um diesen Raum rankten, wurden nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Die meisten Bewohner des Hauses behaupteten, es sei verflucht. Doch Julia, die gerade erst eingezogen war und die düsteren Erzählungen für bloßen Aberglauben hielt, machte sich wenig daraus.

„Ein Zimmer ist ein Zimmer“, dachte sie, als sie vor ihrer neuen Wohnungstür stand. Ihr Budget war knapp, und 303 war das Einzige, was sie sich leisten konnte.


Schon an ihrem ersten Abend bemerkte Julia, dass etwas nicht stimmte. Es war eine bedrückende Stille im Raum, als ob die Wände den Atem anhielten. Selbst der Lärm der Stadt, der normalerweise durch die Fenster drang, schien hier gedämpft.

Während sie ihre Kisten auspackte, fiel ihr auf, dass eine der Wände seltsam kalt war, obwohl die Heizung lief. Ein leichter Geruch nach feuchter Erde hing in der Luft, den sie sich nicht erklären konnte. Julia schob ihre Bedenken beiseite und machte es sich auf ihrer Couch bequem.

Mitten in der Nacht wurde sie wach. Etwas hatte sie geweckt, ein Geräusch, das wie ein Kratzen klang. Sie setzte sich auf und lauschte. Es kam von der Wand – der kalten Wand.

„Vermutlich nur Mäuse“, murmelte sie und drehte sich um. Doch als sie gerade wieder einschlafen wollte, hörte sie es erneut. Diesmal war es lauter, drängender, wie Finger, die über Putz kratzten.

Julia schaltete das Licht ein und starrte die Wand an. Nichts. Sie legte ihre Hand gegen das kalte Mauerwerk und zog sie sofort zurück – die Wand fühlte sich nicht nur kalt, sondern feucht an.


Am nächsten Tag entschied sie sich, den Hausmeister, einen alten Mann namens Herr Rabe, zu fragen, ob es Probleme mit Feuchtigkeit im Gebäude gab. Als sie ihn auf Zimmer 303 ansprach, wurde sein Gesicht blass.

„Sie wohnen dort?“, fragte er mit zitternder Stimme.

Julia nickte und erzählte ihm von den Geräuschen in der Nacht. Herr Rabe schaute sie ernst an. „Das Zimmer ist… anders. Vor Jahren hat dort eine Frau gewohnt. Sie hieß Maren und hat sich nie von jemandem helfen lassen. Eines Tages hat man sie tot aufgefunden – in der Wand.“

Julia lachte nervös. „In der Wand? Das ist doch Unsinn.“

Herr Rabe schüttelte den Kopf. „Die Polizei sagte, sie sei bei Renovierungsarbeiten eingemauert worden. Aber das stimmt nicht. Maren wollte sich verstecken. Vor etwas. Oder vor jemandem.“

Trotz der unheimlichen Geschichte weigerte sich Julia, in Panik zu geraten. Am Abend durchsuchte sie die Wohnung und fand im Wandschrank ein altes, verstaubtes Tagebuch. Es gehörte Maren.


Die Einträge waren chaotisch, voller unleserlicher Kritzeleien, aber eines war klar: Maren glaubte, dass sie verfolgt wurde. Sie schrieb von einer „Dunkelheit“, die in ihrem Zimmer lauere, einer Präsenz, die sie beobachte. Die letzte Seite war jedoch die verstörendste.

„Es kommt aus der Wand. Es will nicht, dass ich gehe. Ich höre es jede Nacht – das Kratzen, das Flüstern. Es wartet.“

Julia legte das Tagebuch weg, doch die Worte hallten in ihrem Kopf nach. Sie beschloss, die Wand genauer zu untersuchen. Mit einer Taschenlampe leuchtete sie jede Ecke ab. Als sie näher hinsah, entdeckte sie etwas, das wie eine eingeritzte Nachricht aussah.

„Hilf mir“, stand da in krakeligen Buchstaben.

Plötzlich erlosch das Licht ihrer Taschenlampe, und die Temperatur im Zimmer fiel schlagartig. Das Kratzen begann wieder – diesmal war es ohrenbetäubend laut. Julia stolperte zurück, während sich vor ihren Augen ein feiner Riss in der Wand bildete.


Der Riss wurde größer, und aus ihm sickerte eine dunkle, ölige Flüssigkeit, die nach Verwesung roch. Julia schrie und rannte zur Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Das Licht im Zimmer flackerte, und in der Dunkelheit sah sie eine Gestalt aus der Wand hervorkriechen – eine bleiche, hager wirkende Figur mit leerem Blick und knochigen Fingern, die von Schlamm bedeckt waren.

„Du bist zu spät“, flüsterte die Gestalt mit einer Stimme, die wie zerbrochenes Glas klang.

Julia taumelte zurück. Die Gestalt kam näher, ihre Bewegungen ruckartig, ihre Augen starr auf Julia gerichtet. In einem letzten verzweifelten Versuch griff Julia nach einem Stuhl und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Riss weitete sich, und mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst die Wand.

Als der Staub sich legte, war das Zimmer leer. Keine Gestalt, kein Kratzen – nur die kalte Nachtluft, die durch ein Loch in der Wand drang.


Am nächsten Morgen war Julia fort. Ihre Wohnung war verlassen, als wäre sie nie dort gewesen. Die Polizei fand nur das Tagebuch und den offenen Riss in der Wand, der ins Nichts zu führen schien.

Die Legende von Zimmer 303 wuchs weiter, und niemand wagte es mehr, dort einzuziehen. Doch manchmal, in stillen Nächten, hört man das leise Kratzen – wie eine warnende Erinnerung an das, was in der Wand lauert.

Kirsten aus Ulm